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"Frankfurt im Gleichgewicht" Weimarer Tagebücher - letzter Tag!

Am letzten Tag der Reise besuchte die Gruppe den Frankfurter «Main Tower» und hatte das Vergnügen, die Metropole aus 200 Metern Höhe zu betrachten. Danach konnten die Schüler und Schülerinnen den Nachmittag frei verbringen. Der Schreibauftrag: Ein Essay zum Thema «Frankfurt: Eine moderne Stadt?» oder zur Altstadt Frankfurts und deren Wiederaufbau nach dem zweiten Weltkrieg.

Frankfurt im Gleichgewicht

Ruben Fein, am 20.06.2019

Die Frankfurter Altstadt, sie ist schön, touristisch und überfüllt.

Die Frankfurter Altstadt, sie ist mittelalterlich und doch keine 50 Jahre alt.

Im Verlaufe des Zweiten Weltkriegs warfen die Alliierten mehr als 26.000 Tonnen Bomben über Frankfurt ab. Ganze Stadtteile wurden ausgelöscht. Das Ausmass der Zerstörung war enorm.

Direkt nach dem Krieg baute man die Pauluskirche wieder auf, auch das Goethehaus wurde als Rekonstruktion wieder errichtet.

Eine totale Wiederherstellung der Altstadt jedoch plante kaum jemand – man beschränkte sich auf einige spezielle Orte und Denkmäler und die unmittelbar in deren Nähe stehenden Häuser.

Die Mittel zum Wiederaufbau hatte Frankfurt, aber auch die BRD, selbst nicht. Die Siegermächte des Zweiten Weltkriegs stellten auch in Frankfurt den Besiegten die Mittel, um sich wieder eine Existenz aufzubauen. Dies natürlich auch in Eigeninteresse, schliesslich galt es gemeinsam gegen den Kommunismus vorzugehen und neue Kriegsgründe zu verhindern.

«Wie ein Phönix aus der Asche»

Heute ist Frankfurt eine Weltstadt, die zu den wichtigsten internationalen Finanzplätzen und den bedeutendsten Industrie- und Dienstleistungszentren Deutschlands zählt.

Während Länder wie Frankreich und Italien, aber auch England, an Infrastrukturellen Problemen scheitern, konnte sich Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg aus dieser Sicht praktisch unbelastet weiterentwickeln. Ironischerweise trifft eine solche Entwicklung in vielen Bereichen zu, wenn man die «Siegermächte» mit Deutschland vergleicht.

Am Frankfurter Kreuz verkehren täglich 335.000 Autos. Mehrspurige Hauptstrassen und ausgebaute öffentliche Verkehrswege zeugen von einer modernen Stadtentwicklung, welche in Frankfurt ohne die Zerstörung der alten Bauten nie möglich gewesen wäre.

Frankfurt konnte aus der eigenen Asche wie ein Phönix auferstehen.

Doch warum wendete man auch für die Wiederherstellung der Altstadt, welche in einer modernen Metropole wie Frankfurt doch theoretisch überflüssig, nein fast schon störend ist, so viel Energie und Ressourcen auf?

Gefahren des Erinnerns

«Die Welt will sich erneuern. (…) Nichts neues kommt ohne Tod». Bereits Hermann Hesse sprach sich in «Demian» für das Töten des Veralteten aus, um den Fortschritt voranzutreiben. «Wer geboren werden will, muss eine Welt zerstören», lautet seine Botschaft, und sie lässt sich durchaus auch auf die Entwicklung einer Landschaft, hier einer Stadt anwenden.

«Der Zusammenbruch einer alten Welt», also die Zerstörung der Stadt Frankfurt, leitet die anzustrebende Wiedergeburt, also den Wiederaufbau der Stadt Frankfurt nach modernen Massstäben, ein.

Wer sich dagegen stellt, nutzt ein ihm zur freien Verfügung gestelltes Potenzial nicht.

So gesehen ist das Bewahren der Altstadt eine Verschwendung von Geld und Platz.

Durch das Festhalten an alten Strukturen behindert man den eigenen Fortschritt. Im Zeitalter der Modernisierung birgt Konservatismus Gefahren.

Gefahren des Vergessens

Neben Flügel sollen kommende Generationen auch Wurzeln vermittelt bekommen, dieser Überzeugung war schon Goethe.

Wurzeln sind feste Verankerungen, welche die Grundlage für eine sichere und fundierte Existenz bilden. Wurzeln sind Bezüge zur Vergangenheit. Wurzeln haben heisst nicht zu vergessen. Entledigt man sich dieser Bezüge, «entwurzelt» man sich selbst oder lässt zu, dass man «entwurzelt» wird, so bleibt nur ein ungefüllter Raum und somit ein Bruch im Individuum.

Eine Altstadt stellt für die Bürger unmittelbar den Bezug zur Vergangenheit her. Architektur veränderte sich in der Geschichte immer mit dem Menschen, da der Mensch sie schafft. Die Architektur und die Mentalität der Menschen scheinen Hand in Hand zu gehen. Wer also eine Altstadt dem Erdboden gleich macht, macht auch die dazugehörende «Mittelaltermentalität» dem Erdboden gleich. Genauso entwickelt jener, der modern-fortschrittlich eine Grossstadt-Skyline anstrebt, im Geist neue Dimensionen.

Letzteres ist natürlich wichtig, Flügel soll der Mensch bekommen, doch wer seine Wurzeln der Flügel willen abstösst, der hebt ab.

Es ist wichtig, dass man «mit dem Vergessen aufhört und bereit ist, daraus ein Erinnern zu machen», sowohl wenn es wie hier bei Oliver Abel um den Holocaust, als auch wenn es wie bei der Zerstörung Frankfurts um gewaltige Eingriffe in das Zivilleben und das Äussere einer Stadt geht (wobei sich diese zwei Punkte hier praktisch die Hand geben…). Man kann sich nicht einer unangenehmen Begebenheit entziehen, indem man sie ausradiert. Zumal auch die Geschichte unter diesem Ansatz von keiner «pädagogischen» Bedeutung ist. Vergessen ist also kontraproduktiv.

Das Gleichgewicht

Das heutige Frankfurt besteht sowohl aus einem Teil eigener Geschichte wie auch aus der eigenen Zukunft. Frankfurt hat sich sein altes Herz wieder aufgebaut, welches dank des pulsierenden Fortschritts in neuen Vierteln wie dem Bankenviertel, aber auch wegen den Touristenströmen durch die Altstadt selber, existieren kann. Es braucht beides. Die Ausgewogenheit verhindert das bereits 1936 von Fried Lübbecke prophezeite «Ausbluten des ganzen Körpers», bezogen auf die Altstadt, welcher man ein Stück herausriss.

Lübbecke läge richtig, wenn da nicht das «Pflaster auf der Wunde» wäre.Ohne Flügel, schaden Wurzeln. Ohne Wurzeln, schaden Flügel. Des einen Positivität ist abhängig von der Existenz seines Gegenteils.

Wer nur vergisst, also keinen Bezug zur Vergangenheit hat, wird immer in der Gefahr leben, zu scheitern. Wer nur erinnert, also in der Vergangenheit lebt, wird gar nicht erst die Möglichkeit haben, an den Punkt des Scheiterns oder Gelingens zu kommen.

Das Gleichgewicht ist also der anzustrebende Zustand..

Projekt 113 - "Weimarer Reise-Journal" Jugendliche der Atelierschule Zürich schreiben auf ihrer Reise nach Weimar. Schreibcoach: Selma Matter.

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