Nach unserem Ausflug in die Kirche Wipkingen vor zwei Wochen nehmen wir uns eine weitere heilige Halle vor: der ehemalige Tresorraum der Credit Suisse an der Bahnhofstrasse (Danke Richard für den Tipp!). Historischer geht nicht. Die fünf Stadtbeobachter*innen und ich streifen durch das Geschäft wie eine dilettantische Einbrechertruppe und finden schliesslich im Untergeschoss, in der Männerabteilung, die nummerierten Tresorfächer. Eines können wir öffnen, wir sind erstaunt über das Format des Fachs (schmaler als A4). Die Verkäuferin und ein Kunde schauen uns interessiert über die Schultern und rufen bald den Filialleiter. Der zeigt uns noch mehr Schliessfächer, es gibt auch mittelgrosse und grosse. In einer Tresorschublade klappert etwas. Die Schublade klemmt, auch der Filialleiter wird jetzt nervös. Wir finden dann doch kein Gold, aber der Filialleiter taumelt jetzt von einer wilden Geschichte zur nächsten, wobei er nach ein paar spekulativen Anfangssätzen zuverlässig in der Luft hängenbleibt. Testamente wurden hier aufbewahrt, weiss er, Uhrensammlungen, Kunst, Gold, Schmuck – und auch Liebesbriefe, sagt er bedeutungsvoll in stark französischem Akzent. Ein Stadtbeobachter ist davon sofort elektrisiert. Und die Testamente, erklärt der Filialleiter, der unterdessen zu seiner neuen Rolle als Historiker gefunden hat, die Testamente – das wissen wir ja, verheissen selten Gutes. Er verzieht schwermütig das Gesicht. Wir nicken verständnisvoll. Immer wieder kämen Kundinnen vorbei, ehemalige versteht sich, oder kürzlich sogar ein Mitarbeiter, der 1966 hier seine Banklehre begonnen habe. Die Stadtbeobachter*innen notieren sich Schliessfachnummern für ihre Geschichten und befühlen die scharfen Kanten der enorm dicken Tresortüre. Ich halte derweil die Verkäufer*innen mit Fragen im Schach, denn zu gerne möchten diese von den Stadtbeobachter*innen die Geschichten erfahren, die sie gerade erfinden. Womöglich wollen sie auch mitschreiben. Auf jeden Fall werden wir sie zur Lesung einladen, sobald es dann soweit ist.
Die Stadtbeobachter*innen treffen sich das nächste Mal am 19. April im JULL. Um Anmeldung wird gebeten: office@jull.ch
Am 24. Mai 2023 lesen die Stadtbeobachter*innen aus ihren Texten im Rahmen des Festivals Abenteuer Stadtnatur.
Wer bei den Stadtbeobachter*innen schreibend vorbei schauen möchte, meldet sich bitte an (office@jull.ch).
Lesen Sie alle Texte auf: https://www.stadtbeobachter-innen.ch/ oder https://twitter.com/JULLinderStadt
JULL-Projekt 45 - Stadtbeobachter/innen - Jugendliche beschreiben ihr Zürich. Schreibcoaching und Redaktion: Gina Bucher. Die Texte der Stadtbeobachter/innen finden Sie auf: www.stadtbeobachter-innen.ch.
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