Die Stadtbeobachter*innen treffen sich heute an der Wibichstrasse 43 in Wipkingen (obwohl das JULL als Treffpunkt hinter dem Paradeplatz in dieser denkwürdigen Woche gerade besonders interessant wäre). Hier in Wipkingen mit Blick bis zu den Schneebergen wird eine Kirche zwischengenutzt. Stadtbeobachter Afrim möchte sie uns zeigen. Alleine die Anreise um 17h ist spektakulär: Der Feierabendverkehr an der Rosengartenstrasse ist Autobahn pur. Besser also diese Strasse nicht über-, sondern unterqueren und bei der nächsten Velodemo mitfahren. Die Kirche sieht tatsächlich aus wie eine Kirche: gross und ruhig, aus dickem Steingemäuer, die schweren Holztüren mit FCZ-Graffitis besprayt. Es sind diese Graffitis und ein paar Klimastreik-Stickers, die den Weg um die Kirche herum zum seitlichen Eingang weisen. Hier empfängt uns Afrim und öffnet die Tür. Andächtig bleiben wir stehen. Das Kirchenschiff gleicht einem besetzten Haus – im positivisten Sinn! – wie man in Zürich schon lange keines mehr gesehen hat. «Endlich wieder einmal ein Ort mit Vertrauen in die Jugend», entfährt es mir. Die jungen Stadtbeobachter*innen verstehen nicht auf Anhieb, was ich meine. Die Kirchenbänke lagern gestapelt oben auf der Empore, damit unten im Kirchenschiff Platz für Tanz (auch Tango), Party und Mal-Happenings ist. Im rechten Seitenflügel warten Kühlschränke und Bartheken-Elemente auf ihren Einsatz, der linke Seitenflügel ist abgetrennt, dahinter lagern Baumaterialien. Es hat sogar WLAN. Für den Zugang auf die Kanzel müssen wir uns schlank atmen; eine Kirchenbank steht vor der Treppe, dahinter liegt ein Schaumstoffkunststück. Natürlich gehen wir alle nacheinander auf die Kanzel und testen die Akustik. Die Schalter für Licht, Orgel, Taufe sind nicht mehr in Betrieb. Doch die Akustik ist nach wie vor tadellos. Was würdet ihr hier vorlesen, hättet ihr hier eine Lesung? «Schreien über die Liebe, flüstern zum Hass.» – «Alles was ich bisher in einer Kirche nie hätte sagen dürfen.» – «Eine Geschichte zum Satan.»
Nach zehn Minuten stellen wir fest, dass wir lauter sprechen als in allen anderen Kirchen zuvor, und ein Stadtbeobachter fragt, wann eigentlich eine Kirche zu einer Kirche wird. Ich empfehle für diese Frage Stift und Papier. Die Stadtbeobachter*innen verteilen sich. Einer setzt sich auf Sofa, einer stellt sich einen Stuhl in die Mitte des grossen Raums, andere schlendern herum, prüfen das FLINTA-WC, studieren die Hausregeln und den Awareness-Code. Nach einer Stunde lesen wir uns unsere Eindrücke spontan vor, jede*r jeweils 2 Sätze. Bald wir klar, dieser Ausflug braucht ein gemeinsames Word-Dokument. Kein anderer Ort ist passender, um sich gegenseitig ins Wort zu fallen.
Zwei Jugendliche tauchen schliesslich auf und zeigen uns den Lichtschalter. Dann verschwinden sie in den Keller und testen die Musikanlage für den nächsten Rave. Die Akustik, sie passt. Danke Afrim für diesen Ausflug.
Die Stadtbeobachter*innen treffen sich das nächste Mal am 5. April 2023 von 17 bis 19 Uhr im JULL.
Am 24. Mai 2023 lesen die Stadtbeobachter*innen aus ihren Texten im Rahmen des Festivals Abenteuer Stadtnatur.
Wer bei den Stadtbeobachter*innen schreibend vorbei schauen möchte, meldet sich bitte an (office@jull.ch).
Lesen Sie alle Texte auf: https://www.stadtbeobachter-innen.ch/
JULL-Projekt 45 - Stadtbeobachter/innen - Jugendliche beschreiben ihr Zürich. Schreibcoaching und Redaktion: Gina Bucher. Die Texte der Stadtbeobachter/innen finden Sie auf: www.stadtbeobachter-innen.ch.
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